„Wir hätten ja auch in das Cafe gehen können!“ bemerkte sein Freund zum gefühlten hundertsten Mal. Aber ob das den Abend gerettet hätte, fand er fraglich.
Sie waren in der Altstadt unterwegs, versuchten aus diesem Abend noch immer etwas zu machen, was er nicht war. Die Stimmung war scheiße und die Clubs alle lahm.
Geh mal wieder mit deinen Jungs aus, hatte sie gesagt. Du musst dich mal wieder amüsieren, hatte sie gemeint.
Was sollte das Schmierentheater?
Seit Wochen schon hatte er schlechte Laune. Seine Arbeit war unbefriedigend, seine Beziehung eingefahren, seine Kumpels nur Fortführungen von vergangenen Gemeinsamkeiten. Was hatte er sich nur dabei gedacht mit ihnen los zu ziehen.
„Hey Schnecke, was machst du so alleine hier?“ Während seine Freunde johlten und dem rot angelaufenen jungen Mädchen hinterher brüllten, drehte er sich weg und betrachtete die Szenerie.
Es war Herbst geworden. Nach Monaten in Schwüle und drückender Hitze hatte sich die Luft endlich etwas erfrischt, der Schweißgeruch war abgeklungen. Doch der Sommer wirkte noch nach, zeigte seine verblassenden Kräfte im samtenen Herbstlicht, ließ noch einmal die warmen Winde durch die Altstadtgassen fegen. Die Bäume hatten schon jene wehmütigen Herbsttöne angenommen, die einen immer sanft in den Winter hinüber geleiten.
Vielleicht lag es nur am Wetter, dass er sich so fühlte. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Niemand war so wetterfühlig, dass er deshalb sein ganzes Leben überdenken würde.
Oder?
Durch die Straßen flanierten frisch verliebte Pärchen, kichernde Mädchentrauben und Freundesansammlungen, die die letzte Woche fort trinken wollten. Eigentlich alles normal.
Seine Freunde waren weiter geschlendert. Micha hatte als Erster bemerkt, dass er stehen geblieben war. „Was is`?“
Er drehte sich in Richtung seiner Freunde und traf eine Entscheidung.
„Geht ihr mal, ich hab keine Lust mehr. Wir sehen uns.“ Und damit wollte er sich weg drehen. „Hee!“ Micha kam die paar Meter zu ihm zurück gelaufen. „Was ist denn los, Mann! Wir wollten doch einen drauf machen!“
„Keine Ahnung. Bin nicht so gut drauf. Sei mir nicht böse, Micha, aber ich hab auf so was keinen Nerv heute.“
„Echt mal, Alter, du bist seit Wochen schon so komisch. Was geht denn bei dir? Wir haben uns eh schon so lange nicht gesehen und jetzt kneifst du? Bist ja echt merkwürdig.“ Micha schaute ihm in die Augen, mit einem Blick, in dem gleichzeitig Fragen und Ablehnungen zu lesen waren.
„Lass gut sein.“ sagte er nur. „Ich ruf dich an.“ Und damit drehte er sich wirklich weg, ging seiner Wege. Scheiße, wie sollte er seinen alten Freunden auch erklären, dass er einen anderen Weg gewählt hatte. Dass er was anderes mit sich vor hatte.
Er konnte es sich ja selbst kaum erklären. Sollte er ihnen etwa sagen, dass er Nachts wach lag und sich fragte, wer er war? Sollte er Micha vielleicht erzählen, dass seit Wochen eine Tasche mit allem Notwendigem im Kofferraum seines Autos lag? Sollte er versuchen, die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, zu umschreiben?
Das alles konnte er sich getrost schenken. Er kannte seine Jungs, wusste genau, wie sie tickten. Und er hatte keinerlei Lust dazu, sich zu erklären, nur um dann als Waschlappen abgestempelt zu werden und immer noch alleine zu sein.
Ach, verdammt. Er kickte gegen einen Stein, als er weiter durch die Gasse schlenderte. Die Sonne war längst untergegangen, doch die Wärme hielt sich noch, wurde von den Pflastersteinen ausgestrahlt, die sie den Tag über aufgenommen hatten.
Was wollte er bloß? Er sollte sich klar machen, was er eigentlich wollte. Dieses Rumgeeiere nervte ihn schon selbst. An einem Tag war er sich fast sicher, dass er einfach nur weg wollte, am nächsten Tag war alles gar nicht mehr so schlimm. Mal dachte er, wenn nicht jetzt, wann dann, dann hielt er wieder an Altbewährtem fest.
War diese Unschlüssigkeit ein Charakterfehler oder einfach schlicht wahnsinnig nervtötend? Konnte man so was ändern?
Vielleicht hatte Kerstin doch Recht, als sie ihn neulich bat, einen Therapeuten aufzusuchen. Er wusste ja, sie wollte ihm nur helfen. Trotzdem hatte er sich nicht gerade verstanden gefühlt und seit diesem Gespräch lag ein unüberwindliches Tal zwischen ihnen, dass nur mit einer wackeligen Holzbrücke aus Gutem Willen und Vergangenheit überbrückt wurde.
Er hatte ja keinen Knall, oder so! War ja nicht so, dass er verrückt geworden war oder ähnliches, er bekam nur zu wenig Schlaf, hatte merkwürdige Gedanken und Empfindungen. Musste er deshalb zu einem Psychodok?? Also echt nicht, oder? Kerstin hatte da wirklich übertrieben.
Er kam an einer Pizzeria vorbei, holte sich ein großes Stück Margeritha. Er setzte sich auf den Rand eines großen Brunnens, um in Ruhe die Pizza zu essen. Dabei beobachtete er die Menschen, die vorbei spazierten. Was mochte in ihnen vorgehen? Hatten sie noch Träume? Wussten sie, dass es da draußen noch mehr gab als das tägliche Einerlei? Dass die Magie Teil des Lebens war und sie nur nicht in der Lage waren, sie zu sehen?
Warum eigentlich nicht? Warum waren so viele Menschen nicht in der Lage, das Außergewöhnliche wahrzunehmen, wo es doch direkt vor ihrer Nase statt fand?
Er biss in die Pizza, bekleckerte sich, fluchte leise mit vollem Mund.
Gab es auf diese Art Fragen überhaupt Antworten? Er hatte zwar ein Bild im Kopf von einem bärtigen alten Mann mit weißen Haaren und mildem Blick, der sich bei der Betrachtung der Menschheit halb tot lachte, aber wirklich daran glauben konnte er nicht.
Allerdings konnte er genauso wenig davon ausgehen, dass das alles hier nur purer Zufall war. Dazu wären es doch wirklich zu viele Zufälle. Er einigte sich mit sich selbst darauf, den metaphysisch geprägten Begriff „intelligentes Design“ zu benutzen für die Tatsache, dass es einen Plan geben musste, aber nicht klar war, wer wirklich dahinter steckte. Er steckte sich das letzte Stück Pizza in den Mund, stand auf und schlenderte runter zum Fluss.
Eigentlich hatte er nur zwei Möglichkeiten: Entweder, er ging nach Hause in sein altes Leben, heiratete Kerstin, setzte mit ihr Kinder in die Welt, blieb in der Firma und lebte sein Leben weiterhin wie bisher.
Oder er stieg jetzt in sein Auto, fuhr einfach immer geradeaus und würde schon sehen, wo ihn das Schicksal hin verschlagen würde.
Beide Möglichkeiten verursachten ihm Übelkeit.
Er gelangte an den Fluss, ließ sich auf einen großen Stein nieder und sah der Strömung bei ihrem bewegten Tanz zu, den sie schon seit Jahrtausenden tanzte.
Er könnte sich auch einfach in die Wellen werfen in der Hoffnung, mit dem Kopf irgendwo anzustoßen, ohnmächtig zu werden und nicht mehr aufzuwachen.
Oh Gott, was war das für ein grässlicher Gedanke? Hatte Kerstin doch Recht gehabt, ihm einen Therapeuten zu empfehlen? War denn alles wirklich so schwarz, wie er es zurzeit wahr nahm? Lebten nicht hunderttausend Andere genauso ein Leben, wie er, ohne sich zu beschweren? War er nicht einer der Privilegierten, die Haus, Job, Auto, Frau und Zukunft hatten? Sollte er nicht eher dankbar sein für das, was er hatte?
Vielleicht war er schlicht verzogen und verwöhnt, dass er sich so bemühte, unglücklich zu sein? Oder war er der Szenekrankheit des neuen Jahrtausends aufgelaufen und war schlicht depressiv? Und was, wenn ja? Musste er sich dann wirklich Hilfe holen?
Verdammte Kacke, was sollte er nur tun?
Sein deprimierender Gedankengang wurde ungefragt unterbrochen, als sich jemand neben ihn auf den Stein setzte. Irritiert sah er auf, um zu erfahren, wer sich da in seine Comfortzone geschlichen hatte und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass es sich um ein Kind handelte. Ein kleines Mädchen saß neben ihm, etwa 8 oder 9 Jahre alt. Sie hatte lange braune Haare, die sie zu zwei Zöpfen gebunden trug, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug Jeans und T-Shirt. Auf dem T-Shirt stand „Be wise, minimalize.“
Er sah sie erschrocken an, rückte sogar etwas von ihr ab und wollte gerade fragen, was sie wolle, da sah sie zu ihm auf. Ihre Augen waren hell und klar. Sie strahlten, als würde dahinter ein Licht leuchten. Sie waren von undefinierbarer Farbe, schienen sich fast zu verändern, wenn sie den Kopf bewegte. Doch das Auffälligste an ihren Kinderaugen war, dass es keine Kinderaugen zu sein schienen. Ihr Blick war ernst und tief, wie jahrhundertealtes Wissen, wie Geheimnisse, von denen Niemand mehr was wusste.
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Das Mädchen sah ihn unbeirrt an. In ihrem Blick lagen Verständnis, Mitgefühl und eine Forderung, die er nicht verstand.
Er wollte wieder etwas sagen, aber irgendwie fehlten ihm die Worte. So blieb er einfach, wo er war und sagte nichts. Sah das Kind an, das zurücksah.
Da lächelte die Kleine und griff nach seiner Hand, die er auf seinem Knie abgelegt hatte. Ein Prickeln durchlief ihn.
So saßen sie da eine ganze Weile, der verwundete Mann und das Kind, Hand in Hand auf einem Stein an einem Fluss und sahen gemeinsam dem Fließen des Gewässers zu.
Mit der Zeit beruhigte sich etwas in ihm. Als ob angestaute Emotionen in neue Bahnen gelenkt werden würden. Sein Atem wurde ruhiger, passte sich ihrem Rhythmus an. Das Betrachten des Fließens im Fluss vor ihm half ihm los zu lassen. Die kleine Hand, die seine hielt, beruhigte ihn.
Und auf einmal war da Nichts mehr, außer ihm und ihr und dem Fluss und der Nacht. Nur noch glitzernde Dunkelheit in der er sich mit seiner kleinen Begleiterin bewegte, ohne sich zu rühren. Etwas geriet ins Fließen, was vorher angestaut gewesen war. Etwas lockerte sich, was vorher geschmerzt hatte.
Er tat einen tiefen Seufzer. Er entspannte sich. Vielleicht zum ersten Mal seit Monaten.
Er drückte die kleine Hand, die sich in seiner befand. Sie war warm. Und wirklich. Und auf eine merkwürdige Art stark und real.
Er drehte sich zu ihr, sah ihr wieder in die klaren, tiefen Augen. Sie lächelte wieder.
Und da verstand er endlich. Er wusste es. Er sah es klar und deutlich vor sich. Und musste lachen. Er lachte über sich selbst und über seine Zweifel. Und die Kleine lachte mit ihm. Es war, als ob sie gemeinsam ein neues Lied schrieben, dessen Noten aus Kichern und dessen Obertöne aus Freude bestünde. Es dauerte, bis beide sich wieder beruhigt hatten. Er wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln, sah sie an und sagte nur ein Wort. „Danke!“
Er saß auf einem Stein, an einem Fluss in einer warmen Spätsommernacht. Er saß alleine dort und die Menschen, die vorbei gingen, sahen ihn merkwürdig an, diesen Mann, der da so saß und vor sich hin lächelte. Er blieb noch eine Weile, sah dem Fließen des Wassers und der Menschen zu, die an ihm vorüber strömten. Doch irgendwann stand er auf und ging nach Hause.
Er wusste jetzt, egal, wofür er sich entschied, es wäre richtig. Er wusste jetzt, dass alles ganz richtig war. Und gut. Und das, egal, was er auch tun würde, er und sein Handeln gesegnet sein würden.
Denn das Leben liebte ihn.
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