Hallo Welt!
Es ist der letzte Tag des Juli im Jahre des Herrn 2011. Ein Sonntag. Das Wetter ist und bleibt herbstlich, ich habe wieder ein Halstuch um (was, wie du weißt, immer ein eindeutiger Beweis für Herbstwetter ist!) und meine Nase kribbelt. Ich sollte dem Nasengott ein Opfer bringen. Vielleicht eine Packung Taschentücher verbrennen oder so was. Mal sehen.
Ist aber alles gar nicht so schlimm, denn ich liebe den Herbst und das entsprechende Wetter und ein bissl krank sein ist auch nicht weiter wild. *schnief*
Mich beschäftigen zurzeit mehrere Themen, weswegen ich mich noch nicht dazu durchringen konnte, mal wieder zu bloggen. Aber da ich meinen Blog schon a bissl ernst nehme, möchte ich auch am Ball bleiben.
Ich als semi-erleuchtete Möchtegerngöttin habe bisweilen immer noch Schwierigkeiten mit dem Sein. Was wohl auch so bleiben wird, bis ich meinen Körper wieder der Erde übergebe. Ich versuche aber weiterhin mein inneres Licht in den Alltag zu tragen und trotz verstopfter Nase meine Umwelt zu erhellen.
Also, was mich so beschäftigt ist zurzeit unter Anderem „die Wahrheit“.
Klingt eigentlich nicht weiter kompliziert, oder? Aber ich kann mir nicht helfen, ich weiß einfach nicht, wohin mit ihr! Was tun mit der Wahrheit?? In die Welt tragen? Für mich behalten? Ignorieren?
Die Gesellschaft und die Wahrheit
Mir wird immer mehr bewusst, dass unsere Gesellschaft uns praktisch dazu erzieht, unehrlich zu sein. Von Klein auf bekommen wir beigebracht, „höflich“ zu sein. Mama und Papa erklären uns, „So was kannst du nicht sagen!“ Wir sind „frech“, wenn wir unsere Gedanken äußern und „lieb“, wenn wir sagen, was die Anderen hören wollen.
In der Schule geht das weiter. Passt du dich nicht an, sagst du nicht, was alle hören wollen, wirst du ausgegrenzt, stigmatisiert. Wir lernen, netten small talk zu halten, über das Wetter, die Nachbarin, das neue Auto (obwohl uns das alles am Arsch vorbei geht), Komplimente zu verteilen („Das ist aber ein hübsches Kleid!“ obwohl wir denken, sie sieht aus wie eine Presswurst) und unehrlich zu antworten (Na, wie geht’s?“ „Gut!“ obwohl uns grad der Nachbarsköter vor das Haus gekackt hat, dass wir dank unserer Schulden bald verkaufen müssen).
Und das ist dann normal. Diese Thematik geht so weit, dass wir beziehungsunfähig werden, weil wir uns nicht trauen ehrlich zum Partner zu sein („Hast du was?“ „Nein!“). Wir lügen unsere Kinder an („Wenn du zu lange fern siehst, bekommst du viereckige Augen!“), unsere Nachbarn („Schicker Vorgarten!“), unsere Ehepartner („Nein, ich bin völlig glücklich mit unserem Sexleben, Schatz!“).
Was ist da los? Warum ist es so herausfordernd, mal ehrlich zu sein? Warum haben wir alle so Angst davor, zu sagen, was uns bedrückt? Warum können wir eine Verletzung nicht offen zeigen, können uns nicht hingeben, vertrauen, einfach die Wahrheit leben?
Aber die Wahrheit zu leben, davon sind wir weit entfernt! Probier doch mal einen Tag lang, einfach ganz ehrlich zu sein. Du wirst sehen, am Ende des Tages, bist du um einige Freundschaften leichter. Deine Mutter sagen, was du von ihrer Erziehung hältst? Deinem Chef sagen, was du von seiner Arbeitsweise hältst? Deiner besten Freundin sagen, was du von ihrem Freund hältst? Überlege es dir gut!
Und genau darin besteht mein Dilemma. Was ist jetzt wichtiger: Die eigene Wahrheit zu leben, auf die Gefahr hin, ab sofort an von allen geschnitten zu werden oder weiterhin höfliche Lügen zu verteilen, um niemanden zu verletzen? Was ist wichtiger? Wahrheit oder das Glück der Anderen?
Wie weit kann ich gehen, mit meiner Wahrheit? Muss ich dem Menschen vor mir an der Kasse des Supermarktes sagen, dass das Produkt, was er da gerade erwirbt, Giftstoffe enthält (Vorsicht mit Süßstoffen!)? Bin ich dazu verpflichtet, meiner Freundin zu sagen, dass sie einen Fehler macht, wenn sie diesen Mann heiratet (Vorsicht mit Brautjungfern!)? Oder muss jeder Mensch selbst entscheiden und ich halte mich aus allem raus? Wann setze ich mich für Andere ein, wann gehört meine Wahrheit nur mir?
In dieser unserer Welt, unserem Land, unserer Stadt möchte Niemand einen Querulanten haben. Die Leute scheinen glücklich mit ihren Lügen. Wir fordern Lügen sogar ein! Was anderes ist denn „fishing for Kompliments“? Oder wollen wir etwa die Wahrheit hören, wenn wir Freunde und Familie fragen, ob sie uns als hübsch, nett und sensibel empfinden? „Nee, also ehrlich gesagt, sehe ich dich eher als einen Durchschnittsmenschen, der bisweilen ganz schön unhöflich sein kann. Und von „sensibel“ bist du so weit entfernt wie die Erde von der Sonne!“
Tja, die Wahrheit kann weh tun. Das wissen wir alle. Also sagen wir zu der verlogenen Ziege, die sich auf jeder Party an unseren Freund ran macht, nicht, dass sie dahin gehen kann, wo der verfluchte Pfeffer wächst, sondern unterhalten sie freundlich mit Urlaubsgeschichten, in der Hoffnung, dass sie bei der Geschichte mit dem romantischen Sonnenuntergang endlich kapiert, dass sie hier nicht gebraucht wird.
Wie kompliziert!
Zugegeben, nicht alle sind wir da so extrem, aber ich denke, die meisten von Euch wissen, was ich meine.
Also. Was tun? Lebe ich die radikale Ehrlichkeit, wie Eli Loker in `Lie to me!`
oder bleibe ich bei freundlichen Lügen wie der Rest der Welt?
Wo ist die Grenze zwischen, ehrlich zum Partner sein, um die Beziehung weiter zu vertiefen und den Mund halten, in dem Wissen, dass das, was ich zu sagen habe, meinen Gegenüber nur verletzt, aber nichts an der Situation ändert?
Der Wichtigtuer
Ich glaube, ein wichtiger Punkt ist, ob man sich selbst sehr wichtig nimmt, oder nicht. Kennst du die Sorte Menschen, die einfach zu allem was zu sagen haben, auch wenn es niemand hören will? Die Sorte Mensch, die dir ungefragt ihre Meinung aufdrängt, ohne zu reflektieren, ob du das gerade haben möchtest oder nicht?
Ich denke, diese Art Mensch, profiliert sich mit „der Wahrheit“. Diesem Menschen ist es gar nicht so wichtig, dir mit deinem Problem zu helfen, sondern lediglich, seinen Standpunkt zu vertreten. Hier findet eine Art Kompensation statt, indem man nach Außen kehrt, was man alles weiß, um nicht schlecht da zu stehen. Diese Art Mensch kritisiert auch wahnsinnig gern, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Wichtigtuer halt. Die beste Art, mit ihnen umzugehen ist, zu nicken, zu lächeln und freundlich zu bleiben. Die Wahrheit, nämlich dass einen das gerade gar nicht interessiert und man gut auf diese Ratschläge verzichten kann, führen hier zu einem Streit. Diese Sorte Mensch sieht sich nicht gern angegriffen.
Das Opfer
Das Gegenstück zum Wichtigtuer ist das Opfer. Es erzählt stundenlang von Problemen, Sorgen, Ängsten. Und wenn du eine Lösung für alles auf einem Silbertablett servierst heißt es „Ja, aber…“.
Auch hier hilft einem die Wahrheit nicht weiter. „Hör endlich auf dich in deinem Selbstmitleid zu suhlen und komm klar!“ ist keine hilfreiche Aussage. Dieser Mensch möchte nur über sein Leid reden, von der Wahrheit will er nichts wissen.
Der Oberflächliche
Auch dieser homo sapiens interessiert sich nicht für die Wahrheit. Auf die Frage, wie das Shirt zu der Hose aussieht will er als Antwort nicht hören „Hat was von einem Autounfall, bei dem die 80er Jahre in Harald Glööckler gerasselt sind!“
Unterm Strich steht eigentlich immer: Jeder hat seine eigene Wahrheit und will die von Anderen nicht hören.
Wahrscheinlich gibt es noch viele Sorten von Menschen, die nicht für die Wahrheit offen sind. Und doch habe ich in meinem Leben gelernt, dass es manches Mal gesünder ist, die eigene Wahrheit anzubringen, als sie runter zu schlucken. Das kann Leben retten. Und Freundschaften. Und sollten nicht gerade die guten Freunde ehrlich sein und Wahrheiten auch annehmen können – auch wenn sie unangenehm sind? Wenn ich nicht zu meinen Freunden ehrlich sein darf, zu wem dann???
Oder doch einfach so weiter machen, wie bisher?
Nein. Wenn ich diesen Gedankengang einmal begonnen habe, kann ich nicht auf halber Strecke stehen bleiben. Aber wohin wenden?
Die Fragen
Nun, ich denke, dass es hier wieder mal um ein Thema geht, für dessen Lösung es kein Patentrezept gibt.
Die Fragen, die man sich selbst stellen sollte, sind:
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Wer ist mein Gegenüber? Bin ich beim richtigen Adressaten? Oder erzähle ich gerade einer Kollegin, wie scheiße ich eine andere Kollegin finde? Auch das ist Wahrheit, aber nicht eben angebracht und hilfreich.
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Ist mein Gegenüber überhaupt aufnahmefähig? Einer heulenden, weil frisch verlassenen Freundin kann ich noch so viele wahre Ratschläge geben, vielleicht hilft es ihr aber mehr, ihr einfach zuzuhören und für sie da zu sein.
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Äußere ich meine Wahrheit, weil ich denke, dass sie dem Anderen hilft, oder einfach nur, weil ich sie halt äußern will?
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Ist meine Wahrheit in der aktuellen Diskussion hilfreich oder verletzend? (Vielleicht sollte man die Grabesrede über den geizigen Onkel doch lieber abgeben, bevor man was sagt, was einem ewig nach läuft…)
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Denke ich, dass meine Wahrheit vom Gegenüber in seiner Perspektive verstanden werden kann? Eine christliche Wahrheit hilft einem Muslim vielleicht nicht wirklich weiter.
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Und vor allem: Wenn ich beschlossen habe, meine Wahrheit an den Mann oder die Frau zu bringen, wie formuliere ich sie? Die mit-der-Tür-ins-Haus-Methode ist da nicht immer angebracht. Der Ton macht die Musik. Ein Mensch sagt mehr mit seiner Körpersprache, als mit den Worten, die er ausspricht. Und eine sanft angebracht Wahrheit kann mehr erreichen, als ein Hinknallen von Ehrlichkeit.
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Beachte deine Verantwortung! Wenn du deine Wahrheit ausgesprochen hast, kannst du sie schwerlich zurück nehmen. Deshalb solltest du dir sicher sein, dass du dahinter stehst, dass du weißt, was du willst. Und mit den Konsequenzen leben, auch wenn das bisweilen bedeutet, sich von geliebten Menschen zu trennen, neue Wege zu gehen und los zu lassen.
Die „sanfte Wahrheit“
Um es auf den Punkt zu bringen: Ausschlaggebend ist die Intention. Frage dich, WARUM du hier und jetzt deine Wahrheit anbringen möchtest. Möchtest du mitreden, dich einbringen, wichtig tun oder nur deinen Standpunkt klar machen, ohne auf dein Gegenüber einzugehen, überlege gut.
Willst du deinem Gegenüber helfen und hast das gute Gefühl, dass er aufnahmefähig, offen und gewillt ist, die Botschaft zu hören, dann los!
Aber spüre in dich hinein und sei auch ehrlich mit dir selbst. Nicht nur die Anderen müssen mit unserer Wahrheit leben, sondern vor allem auch wir selbst. Wir haben das Recht darauf, unsere Wahrheiten zu hinterfragen, sie zu ändern, zu äußern oder sie für uns zu behalten.
Aber die Verantwortung dafür liegt allein bei jedem Einzelnen. Bringe deine Wahrheit vorerst nicht an, wenn du dir nicht sicher bist, die Wahrheit kein Ziel hat oder du damit überfordert wärst. Niemand verlangt von dir, dass du zu deinem Chef läufst und ihm ehrlich sagst, wie sexy du seine Frau findest.
Aber wenn du gefragt wirst, dann versuche doch einfach, so ehrlich wie möglich zu antworten, die Antwort aber so zu formulieren, dass sie nicht unbedingt provozierend wirkt. Außer du willst das.
Die Wahrheit ist der Lüge prinzipiell vorzuziehen. Aber das bedeutet nicht, dass du der freundlichen Verkäuferin sagen musst, dass ihre Frisur scheiße aussieht. Gehe nicht mit deiner Wahrheit missionieren. Aber wenn man dich fragt, steh zu deinen Gefühlen und zu dir selbst. Rechenschaft bist du nur dir schuldig.
Sei ehrlich zu dir selbst. Es ist wichtig, zu Partnern und Freunden ehrlich zu sein, sich auch mal emotional weit aus dem Fenster zu lehnen, anstatt nicht zu sagen, was dich bedrückt. Ich bin sicher, dein Partner wird offen für deine sanft angebracht Wahrheit sein, denn er will dich glücklich machen. Und ich meine Hier eine „Ich-habe-das-Gefühl-du-siehst-mich-nicht-Wahrheit“ und keine “Du-bist-ein-blöder-Arsch-Wahrheit“. Wie gesagt, der Ton, die Musik.
Jeder ist selbst für sich verantwortlich, ganz klar. Und wenn wir alle diese Verantwortung übernehmen, können wir ein besseres Leben führen. Wenn wir dann noch eine „sanfte Wahrheit“ leben, müssen wir weder uns selbst, noch andere belügen oder verletzen. Wir fühlen uns besser, weil wir ehrlich sind. Und der Gegenüber bekommt eine Chance, nämlich die, die Perspektive zu wechseln und sich weiter zu entwickeln. Oder weiterhin sein Ding durchzuziehen.
Aber das liegt dann im Verantwortungsbereich des Gegenübers. Nicht mehr in deinem.
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