Ehre

Veröffentlicht am 9. Juni 2011 um 19:59

Vor einigen Tagen klingelte es an meiner Türe. Da ich niemanden erwartete, öffnete ich überrascht. Es stand ein älterer Mann davor, abgehärmt, dünn, graue Haut, traurige Augen, die aber noch nicht ihren Glanz verloren hatten. Er bat um meine Aufmerksamkeit. Die schenkte ich ihm.

Er erzählte von seinem Leben. Er sei arbeitslos, schwer krank, verliere gerade die Wohnung, von Frau verlassen, unglücklich in ein drogenabhängiges Mädchen verliebt und habe seit Tagen nichts gegessen. Er suche nach Arbeit, sagte er, egal was, Gartenarbeit, Renovierungen, irgendwas, weil er sich so nutzlos vor komme. Es sei ihm unangenehm, klingeln zu müssen, sagte er, aber bei der ArGe gäbe es nichts und er wolle doch was Geld verdienen. Er hatte einen Ordner dabei, den er mir unaufgefordert zeigte. „Ich möchte, dass sie mir glauben!“ sagte er. Es waren Unterlagen darin, von der ArGe, wie viel er an Arbeitslosengeld bekommt, was die Wohnung kostet, die er gerade verliert und so weiter.

Ob ich vielleicht was zu trinken hätte, er sei schon den ganzen Tag mit dem Rad unterwegs. Es war halb sechs Abends. Ich gab ihm eine Flasche Wasser, die er begierig öffnete.

Er berichtete weiter. Das Mädchen, das er liebt, hat sein letztes Geld geklaut. „Sie ist ein Teufel.“ sagte er und aus seiner Stimme sprach Zärtlichkeit. Er habe 6 Kinder. Seine Frau sei ihm fremd gegangen. Und er müsse sich ein neues Zimmer suchen, denn das jetzige passe der ArGe nicht.

Ich stand nur da, im Türrahmen, lächelte, nickte und gab zwischendurch kurze Kommentare ab. Und während er von seinem Leben erzählte und wie viel Scheiße ihm doch passiert ist, fragte ich mich, was ich tun kann. Wie reagiere ich am besten?? Ich mochte ihn nicht rein bitten, denn ich war alleine und meine Ma hat mir bei gebracht, keine fremden Männer ins Haus zu lassen. Auch wenn ich kein kleines Mädchen mehr bin und das Haus nicht mehr das meiner Ma ist, halte ich mich daran.

Ich mochte ihn in seiner Opferlage aber auch nicht unterstützen, ihn nicht durch unangebrachtes Mitleid noch mehr in seine Rolle pressen. Jeder ist seines Glückes Schmied, oder nicht? Glaube ich nicht an die aktive Realitätsgestaltung? Wenn ja, dann muss ich davon ausgehen, dass dieser traurige Mann da vor mir, sich alles selbst zuzuschreiben hat.

Aber daraus lässt sich für mich nicht schließen, dass er selber schuld ist. Das Ergebnis dieser Überlegung ist für mich nicht, dass ich ihm die Tür vor der Nase zu mache und mir denke, er hätte es ja auch anders haben können. Mensch sein ist mitunter ziemlich schwierig und ich frage mich, was seine Seele wohl gerade für Erfahrungen durch ihn macht. Auch Opfer sein kann eine interessante Erfahrung sein.

Wenn er die bewusste Wahl gehabt hätte (die er ja eigentlich immer noch hat, es aber wohl nicht weiß oder nicht wahr haben will), hätte er sich sicherlich was anderes gestaltet. Autos, das Mädchen an seiner Seite, das er liebt, ein schönes Häuschen, Urlaub, gute Ärzte….

Oder? Ich schaute ihn an. Er sprach mit Leidenschaft über seine verkorkste Vergangenheit, legte viel Seele in seine Erzählungen über Versagen, Ängste, Leid. „Aber ich will nicht klagen“ sagte er mir. „Es gibt Kinder, die haben weder Arme noch Beine und leben noch in schlechten Verhältnissen. Das ist schlimm!“

Was sollte ich dazu sagen? Ich glaube nicht, dass es ihn wirklich interessierte, dass ich seit Jahren mit Menschen mit Behinderungen arbeite und „ohne Arme und Beine“ nicht immer ein Fluch sein muss. Aber ich weiß ja, was er meinte und hörte weiter zu. Und ich merkte, er möchte keine Antworten zu seinen Problemen. Er möchte kein Mitleid von mir. Er war an Lösungen nicht interessiert. Er mochte lediglich sein Herz wärmen, wie Hände an einem Feuer gewärmt werden können.

Und da hörte ich die leise Stimme in mir. Oder eher, ich spürte das Wissen. Ich hatte die Antwort auf meine Frage gefunden, wie verhalte ich mich hier am besten?

Alles, wonach dieser Mensch sich gerade sehnte, war meiner Meinung nach, sein Schicksal zu teilen. Er wollte nur reden, ein bisschen Aufmerksamkeit einheimsen, ein wenig Seelenmassage für unterwegs, etwas ehrliches Mitgefühl. Und das sollte er haben, dachte ich.

Ich ehre dich und deine Reise. Ich ehre, was und wer du bist. Ich gratuliere dir zu dieser fantastischen Rolle, die du hier auf der Bühne des Lebens so gut spielst. Ich segne dich.

Er tut mir nicht leid. Ich bin nicht traurig um ihn. Ich wünsche ihm nicht, wer anders zu sein. Mit einem mal sehe ich ihn.

Und mit ein bisschen was zu essen und ein paar Euro, die mir nicht weh tun, geht er wieder seines Weges, geht an der nächsten Türe klingeln, um seine Geschichte zu erzählen und nach Arbeit zu suchen.

Und ich bin mir fast sicher, heute hat er mein Gesicht schon wieder vergessen. Und ich bin ihm nicht böse deswegen.



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