
Sie steht sehr nah am Wasser. Ihre Zehen werden von den kleinen Wellen umspült, die immer wieder nach Land greifen. Sie nimmt einen weiteren Stein auf und wirft ihn in den See zu den anderen. „Gibt es denn keinen anderen Weg?“ fragt sie. Ihre Stimme klingt gequält, hoffnungslos. Sie dreht sich nicht um, als er antwortet.
„Ich fürchte nein.“ sagt er sanft.
„Aber das ist so schwierig!“ jammert sie. Noch ein Stein durchbricht die Wasseroberfläche und sinkt langsam auf den Grund.
„Ich weiß.“ Seine Stimme ist glänzendes Metall, glatt und kühlend, aber voller Mitgefühl.
Der Wind rauscht in den Bäumen ringsum, das Wasser plätschert, ein Vogel ruft. Sonst ist alles still.
Nach einiger Zeit nimmt er den Faden wieder auf. „Vielleicht solltest du die Blickrichtung ändern.“ meint er.
„Wie das?“ Etwas Hoffnung hat sich zurück in ihre Stimme geschlichen.
„Schau doch mal von oben auf die Dinge.“ schlägt er vor.
„Von oben? Ich stehe aber nun mal mit beiden Beinen auf der Erde!“ Sie sieht an sich herab und fügt hinzu „…und halb im Wasser.“
Hinter ihr rascheln Flügel, als seine Schultern unter seinem Lachen erbeben.
„Sicher.“ sagt er. “Aber manchmal hilft es, zu fliegen.“
„Ich bin ein Mensch und Menschen können nicht fliegen.“ Sie ist trotzig.
„Das stimmt. Aber ihr könnt einen Schritt zurück treten, tief Luft holen und es noch mal versuchen.“
Jetzt dreht sie sich zu ihm um, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf schief gelegt. Ihre Augen blitzen. „Du hast leicht reden! Du hast ja keine Ahnung, wie es hier unten sein kann! Stress, Drama, Streit, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit sind hier Standart! Und das ist nur das, was wir verwöhnten Westkinder des 21. Jahrhunderts zu bieten haben! In anderen Teilen der Welt geht es noch viel krasser zu. Und du stellst dich da hin und sagst, wir sollen einen Schritt zurück treten und Luft holen?“
Er nickt. „Genau. Und es noch mal versuchen.“
Sie schnauft. „Ich hab keine Ahnung, wie das gehen soll oder was das bringt. Mein Leben ist so scheiße, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
Jetzt legt er den Kopf schief. „Dann mach was anders.“
„Was anders machen? Was denn?“
Er klopft auf einen großen Stein neben sich. Sie kommt zu ihm rüber und setzt sich. Sie sieht ihn an. „Schließe deine Augen.“ Seine Stimme ist wie der Wind, warm und schmeichelnd. Sie schließt die Augen. „Atme tief ein und aus.“ Sie atmet. Ihre verkrampften Gesichtszüge lockern sich etwas.
Nach einigen Minuten sagt er leise „Und jetzt stell dir die Frage, die dich so quält. Und lausche auf die Antwort.“
Er beobachtet ihr Gesicht. Ihre Züge werden erst noch sanfter, dann formt ihr Mund langsam ein lautloses „Oh…“
Sie öffnet die Augen, sieht ihn an. Etwas an ihrem Blick hat sich verändert. Ihre Augen glänzen jetzt und ihre Mundwinkel sind nicht mehr so wütend.
„Das ist alles?“ Die Frage klingt erleichtert, überrascht, herausfordernd.
„Das ist alles.“ Er lächelt. Und sein Lächeln ist wie ein Versprechen, fest und sicher.
Sie seufzt und es klingt erleichtert, als ließe sie etwas sehr Schweres los.
„Also gut. Dann gehe ich mal leben.“ Und mit diesen Worten steht sie auf und geht in die Welt.
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